Wer war diese Frau, die vor ziemlich genau einem Jahr noch so gelöst gewirkt hatte und unbeschwert. Etwas musste passiert sein. Wäre es nicht der Rückspiegel gewesen, der ihren Blick auffing, leise, wie ein herabfallendes Blatt, man hätte meinen können, jemand hätte einen Filter über ihr Gesicht gelegt. Einen dieser Overlayer, die einen aussehen ließen wie auf einem vergilbten Gemälde, auf denen die Urahnen von den Wänden herabschauten, stumm, auf jene, die ihnen nachfolgten. Herbst hätte der Filter heißen können. Noch besser: Use/d Case.
Claire war noch nie eine gewesen, die sich was vormachte. Nicht wirklich. Es stimmte, es war ein Filter. Und dieser Filter hieß Leben. Knallhartes Leben.
Erst wenn Claire sich weit nach vorne beugte und das Spiegelglas fast mit der Nasenspitze berührte, konnte sie sehen, wie sich zwei kleine Kerben knapp unterhalb der Mundwinkel gebildet hatten. Von dort aus, etwas nach innen versetzt, strebten zwei feine Linien, die vor kurzem noch nicht da gewesen waren, links und rechts über das Kinn trotzig abwärts, Richtung Hals. Claire wurde alt, und es machte etwas mit ihr – sie wusste bloß noch nicht, was.
Alice im Wunderland – das Kinderbuch von Lewis Carroll, hatte Claire nie gelesen. Sie mochte Märchen. Trotzdem fuhr sie nicht, wie manch andere Kinder, auf solche hin-konstruierten Phantasy-Geschichten ab, bei denen es um irgendwelche nicht-existenten Dinge ging, wie blaue Zwerge mit weißen Mützen oder Autos, die sprechen konnten und die sich bloß jemand ausgedacht hatte, im vergeblichen Bemühen, an den Gebrüdern Grimm vorbei etwas Neues zu schaffen.
Alice im Wunderland war anders. Das wusste Claire bloß damals noch nicht. Wer den Text genau liest, begreift: Der Verfasser hatte zum Schreiben keinen LSD-Trip gebraucht, wie manche behaupten – er hat sich bloß das Leben anschauen müssen, die Menschen um sich herum, wie sie sprachen, einander ansahen, sich ins Wort fielen oder es bewusst vermieden. – Alice im Wunderland mag Traum-Elemente enthalten. Und trotzdem meinte Claire manchmal auch Persönlichkeitsanteile der Grinsekatze oder des Schildkrötensupperich in ihren Zeitgenossen zu entdecken.
Gerne wäre Claire in die Surréalice gegangen, doch war sie gerade erst in Straßburg gewesen, ohne von der Ausstellung zu wissen, die nicht mehr lange lief. Schon wieder verpasst, so wie sie die Magnolien verpasste, Jahr um Jahr. Wann immer sie blühten, sagte sie sich, ES hat Zeit. Sie wusste, dass das eine Lüge, eine Selbstlüge, war.
Die Ausstellungsmacher versprachen ihren Besuchern eine Reise durchs Wunderland, vom Traum bis hinter die Spiegel. Für Claire würden die Exponate zweifellos das eine oder andere Déjà-vu bereithalten. 2021 mochte für die Unternehmerin – (nicht nur) in Business-Dingen – ein Jahr der Wunder gewesen sein...
... 2022 übertraf das Vorjahr. Da fand sie aus dem Wundern nicht mehr heraus.
Zumindest manches war Claire surreal vorgekommen, von dem, was sie in diesem Jahr erlebte, durchleben musste, was sie durch ihr Rennen hindurch wahrnahm und durch ihr Brennen – immer im Wechsel, wie die orangenen Scheinwerfer auf der Stadtautobahn, wenn sie wieder hinein musste, in das Lärmende, Unaushaltbare dieser Stadt mit dem weißen Himmel. Doch konnte es ihr auch auf dem Land passieren, dass ihr plötzlich alles seltsam fremd vorkam. Claire wusste, dass sie sich das alles nicht einbildete. Und dass es keine Phantasy-Erzählung war, in die sie sich versehentlich, hinein-verirrt hatte.
Es war im Sommer gewesen, als die Anfrage von Peter Buchenau auf ihrem iPhone aufpoppte.
Ob Claire nicht Lust hätte, einen eigenen Beitrag zu seinem neuen Buch beizusteuern. Zu jedem Buchstaben im Alphabet sollte ein eigener Text entstehen, sie würde sich ihren Lieblingsbuchstaben aussuchen dürfen.
26 Gedanken an eine sich verändernde Welt – das klang gut. Claire liebte Veränderung, sie war ihr teuer, vor allem, wenn es um die Welt ging. Und der ging es in diesem Jahr noch weniger gut als sonst.
Ständig war auch das Business von Claire unerhörten Veränderungen unterworfen. Diese Veränderungen oder Wendungen schlichen sich nicht an, sie traten plötzlich in das Leben von Claire. Kurz streckte es sie nieder, schon rappelte sie sich auf, bloß um weiterzu(b)rennen, Kilometer um Kilometer. Die Dinge waren wie sie sind. Claire hatte irgendwann aufgehört, sich gegen Unabänderliches aufzulehnen. Das wäre ihr albern vorgekommen. In diesem Sinne war die Literaturwissenschaftlerin Vollblut-Ökonomin.
Dabei empfand sie sich ebensowenig als Literatin wie als Wissenschaftlerin. Sie las gerne, das schon, doch wann hatte sie zum letzten Mal ein Buch ganz durchgelesen? – In diesem einen Sommer am See vor drei Jahren? Ganz abstrakt war sie da, diese Erinnerung an ein Sinken, in sich hinein, wenn sie in die Schrift eintauchte und vergas, dass sie las. Dieses Erinnern hatte sich aufgerippelt. Das frühere Bedauern war mit der Zeit immer mehr verblasst, bis es vollständig verschwunden war.
Heute las sie ausgesuchte Artikel, die wohlportioniert jeden Tag gegen 6:30 Uhr in ihren Email-Account hinein huschten. Verblüffend, was man ihr vorschlug, wie schlau sie ihr vorkam, diese KI, die sie besser und immer schneller zu kennen schien, ihr vorauseilte, ihr, die sich mit zunehmenden Alter praktisch antizyklisch immer weniger auskannte mit sich selbst. Von einem Partner hätte sie dergleichen nie gewollt, was erklärte, warum sie ihr immer ein bißchen unangenehm war, diese aufdringliche Eilfertigkeit. Trotzdem galt es, sich einzugestehen: Sie war sich abhanden gekommen. Nun hieß es, sich wiederzufinden. Sie versuchte es anhand von Bildern. Hunderte von Selfies hatte sie im Laufe dieses letzten Jahres von sich gemacht. Ab und zu verglich sie fassungslos die unterschiedlichen Ich-Konstruktionen – welche all dieser Frauen war sie nun, nachdem die Zeit über sie hinweggeglitten war? Warum war ihr alles das nicht früher aufgefallen?
Mit der Zeit hatte sie gelernt, Veränderung als Spiel zu begreifen, das sie als weitere Leidenschaft in ihr Repertoire der Überlebenskünste mit aufnahm. Ohne es zu bemerken, war sie über alldem zu einer Art Performerin geworden – déformation professionelle clairienne. Die eigentliche Kunst bestand darin, ihr, der Veränderung, zuvorzukommen. Mit ihr umzugehen, sie zu modellieren, sie ihrerseits zu transformieren. Darin lag die Chance, den Schachzügen und unvorhergesehenen Volten ihres strapaziösen Entrepreneurinnen-Daseins nicht länger ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Es zeigte sich, dass die Auswahl des Buchstabens für 30-Gedanken (es waren auch die Umlaute mit einbezogen worden, inzwischen sind es bereits 66 Gedanken) Claire vor Herausforderungen stellte. Im Grunde genommen hätte sie sich gern zu jedem Buchstaben des ABC zu Wort melden wollen. Doch war es wie so oft im Leben: Man musste sich entscheiden. Sich für etwas zu entscheiden bedeutete indes zumeist, sich gegen etwas anderes zu stellen. Claire mochte nicht einsehen, warum das bei ihr so sein sollte, auch wenn sie verstand, dass manche so lebten.
Das A wie Aufsichtsrat war an den Kooperationspartner aus Wien bereits vergeben. Aber Claire fand, dass das C sowieso viel besser zu ihr passte. C wie Comic oder Courage, wie Change oder Chancenfairness, wie C-Level, Corporate Governance, Camouflage oder Champagner oder auch C, die Programmiersprache – es gab wirklich jede Menge Cs, die Claire ausmachten, mit denen sie sich identifizierte oder die sie liebte, auch das.
Allein der Name jener Plattform, die Claire und ihre beiden Mitstreiter unter sich den Wunderwürfel getauft hatten, das HERZstück von [ALLEM], begann nicht mit einem C, außer man betrachtete die Sache auf Englisch oder auf Französisch. (= Core/Cœur)
Von den Besten die Passenden ins Board – das war und ist Claires eigentliche Mission, eine Mission, auf deren Weg sie das Gefühl hatte, einen Stein den Berg hinaufzurollen, der ihr zwischendurch immer wieder entglitt.
Es war eben die Sache nicht so ganz leicht mit der Welt. Schon gar nicht, wenn es darum ging, sie zu verändern.
Man muss was sehen können – diesen Satz bekam die Unternehmerin immer wieder aufs Ohr, wenn sie zwischen Frankfurt und Freiburg wortreich zu erklären versuchte, worum es bei dem Wunderwürfel ging. Was hatte dieser François, den man nie zu sehen bekam, da wohl genau ersonnen? Was mochte an dem ganzen dran sein, wenn es für Dr. Stierle, der einen exzellenten Ruf genoss, so einen Unterschied machte, dass es ihn dazu bewegte, als Investor erste Schritte zu ermöglichen?
Weil niemand so richtig (in der Tiefe) hörte, auf das, was Claire sagte, musste sie sich dauernd etwas Neues einfallen lassen.
AufsichtsART? – Was sollte das nun wieder? fragten sich manche. Fokus, Fokus, Fokus, lautete der gutgemeinte Rat aus dem männlich-weißen Mittelbau ihrer Board Community oder – Variation: So kriegst Du kein Start-up zum Laufen.
Abgesehen davon, dass Boardscore (so hieß das gute Software-Stück inzwischen) kein Start-up war, sondern ein Scale-up, wie Claire im Laufe des Jahres lernen würde – bei AufsichtsART ging es um eine zentrale Sache, die, wie sie fand, auch für jedwedes Aufsichts- und Kontrollgremium von Relevanz war bzw. relevant sein sollte:
Wie gehen Menschen mit etwas um, was da ist, selbst wenn man es nicht sehen kann?
Hatte es nicht schon x-Situationen gegeben, bei denen hinterher alle sagten: Wäre besser gewesen, mal genauer hinzuschauen. Claire ging einen Schritt weiter: Wäre gut gewesen, sich das SCHEINBAR (!) UNSICHTBARE mal genauer anzuschauen.
Im übrigen ging es darum, sich berühren zu lassen. Weg von jenen stakkatohaften, einander gegenseitig überbietenden Ego-Posts, grellen Momentaufnahmen, die ihre Schatten vorwegnahmen.
Claire hatte zwar über Social Media zum Schreiben gefunden – doch das stimmte nicht ganz. Sind es nicht immer die Menschen, die uns aufschließen? Ist das Du (hin zum Wir) nicht der eigentliche Schlüssel? Dabei galt es, einander wieder mehr zu geben – nicht wie ein Breadcrumber, dem es allein um sein Ego ging, andere mit Krümelchen anzufüttern, auf dass alles hübsch im Ungefähren bleibe. Das soll so nicht sein. Andere Diskurse mussten her, mutige Formen der Nähe, eine besondere Qualität der Zugewandtheit, der Integrität, des inneren Zusammenhalts, der Deutlichkeit, der Empfindsamkeit, der Hinwendung und des Sich-zeigens.
Doch sogar dieser Punkt barg Raum für Missverständnisse. Es geht um Resonanz, sagt Claire und schaut dem Franchise-Unternehmer fest in die Augen. Ja, erwidert der. ...die Resonanz auf den BoardFlight war doch auch sehr gut.
CUT
Kunst und Wirtschaft zusammenbringen – das war eine Wendung, die Claire vorkam, wie ein Apfel, der hinter das Sofa gerollt war und den man, irgendwann, Jahre später, beim Staubsaugen fand.
Getreu dem Motto keep it simple, make it fake, wählte Claire am Ende dann doch die Kunst meets Wirtschaft-Worthülse, um für die Ankündigung von AufsichtsART bei den Abonnenten der exklusiven Aufsichtsrats-Newsletter nicht völlig durch das Lese-Raster zu fallen.
Aber ach, schon wieder Kompromisse. Hätte es nicht wenigstens in Wien gegolten, zum Ursprungstext zu stehen? In diesem Sinne – zu Sacher, Schätzchen, hier kommt die Initialversion zu AufsichtsART.
Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Kunst steckten uns ihren Steckbrief zu – persönlich. Sie waren gebeten worden, ein Geleitwort zu schreiben, für ein Buch mit dem Titel AufsichtsART. Unter dem Buchdeckel hatte, wie die Angefragten erfuhren, kein Autor, keine Autorin je eine Zeile geschrieben.
Sie hörten, dass sie schreiben sollten, was sie annähmen, dass wohl ein Anderer über AufsichtsART geschrieben hätte. Ich habe gegooglet, sagte eine, aber AufsichtsART habe ich nicht gefunden.'– Lass es uns zusammen schreiben, sagte der nächste. Ein Dritter fragte nicht, sondern diktierte sein Geleitwort kurzerhand beim Frühstück ein.
Und so sind es die Geleitwortgebenden selbst, die in ihrer jeweils ganz eigenen Art des Umgangs mit dem, was (noch nicht) ist, zu Gestaltenden werden.
Mit menschlicher Intelligenz, unverstellt, bar jeder Künstlichkeit, tragen sie mit ihrem Selbstverständnis, mit ihrer inneren Haltung, mit ihren Sichtweisen und Erfahrungen dazu bei, einer Begriffswelt, so fremd und wenig fassbar diese zunächst scheinen mag – konkrete Gestalt zu verleihen. Erst durch sie wird Künstliche Intelligenz zu dem, was sie einst sein wird.
AufsichtsART ist Zusammenspiel, Teamwork, Kollaboration – ein Buch, das Resonanzräume eröffnet, zugleich offen ist, für spontane Assoziationen und die Denk-Kompetenz von Aufsichtsartistinnen und -artisten, die nicht nur den Blick über den Teller wagen, sondern über dessen Rand weit hinauswachsen.
In der Brandstätte, dem epizentrischen Keller der ebenso schrägen wie schönen Künste im Herzen Wiens (Café KORB, 22.02.2023, 17:30 Uhr) werden wir gemeinsam zu Zukunftsgestalterinnen, zu Zukunftsagenten.
Um persönliche Anmeldung bei [email protected] wird gebeten. Bleiben Sie einzig- und aufsichtsartig. Voilà. Point final. So oder so ähnlich hatte Claire sich das vorgestellt.
Schon jetzt dankt Claire dem LINDE Verlag (Wien) sowie der Inhaberin des Café KORB, der legendären Performance Künstlerin, Susanne Widl und ihrem einfach unglaublichen Kulturmanager, Franz Schubert, für die freundliche Unterstützung.
Es war doch so: Wer so eine Ankündigung einfach abtat, weil sie ihm (oder ihr) unverständlich, gar kryptisch vorkam, gehörte nun mal einfach nicht zur Zielgruppe. Das war nicht schlimm. Auf die anderen kam es an.
Zukunftsgestaltende, mit der Gabe des besonderen Blicks, des Gespürs für Wirkkräfte jenseits des Sichtbaren, ausgestattet mit der inneren Bereitschaft, Wir-Kompetenz zu entwickeln, all diesen Persönlichkeiten kommt es zu, unsere Wirtschaftswelt von Morgen zu gestalten.
Claire hatte eine Weile gebraucht, für sich zu verstehen, dass genau hierin die Logik lag:
Ihre diesjährige Odyssee durch das Land der verschlossenen Türen war die Voraussetzung gewesen, um im Winter zu erfassen, was François im Frühling gesagt hatte: Wir sind UNTERTAGE führend.
Ja, war es denn ein Wunder, dass Claire auf den Gedanken verfiel, ausgerechnet Alice im Wunderland als Topos für die 30-Gedanken herzunehmen?
Und weil das A, wie gesagt, schon vergeben war, nannte sie ihre Ballade vom weinenden Manager einfach Clarence in Wonderland. Dabei rief ihr eigenes Wunderland in diesem Jahr eher Assoziationen an ein Wundenland wach – mit N in der Mitte. Aber das weiss Claire zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wie bei Alice stehen auch bei Claire die Transformation sowie der Zwischenraum zwischen Traum und Realität im Mittelpunkt der Narration. Dazu die Frage, was wir unter Wirklichkeit verstehen.
Statt des weißen Kaninchens kommt bei Claire ein schwarzer Hase ins Spiel. Aber das macht nichts. Darauf kommt es nicht an.
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Nach Herrnhuter Tradition ist der Böhmische Gottesacker mit liegenden Grabsteinen angelegt. Die Bestattungen erfolgten nach Geschlechtern getrennt. – Meister Lampe war nicht nur das wandelnde Wiki, er setzte seine Worte immer mit Bedacht.
Der schwarze Hase und Claire stehen Schulter an Schulter vor einer der verwitterten Grabstätten. Claire schaut nach oben und kneift ihr rechtes Auge zusammen. Der Himmel ist klar, die Kälte klirrend, die winzige weiße Wintersonne müht sich ab. Es ist Mitte Januar, der Notar-Termin steht kurz bevor. Investor Dr. Stierle und der Erfinder des Wunderwürfels, François de Magique, Founder der #tagDreams AG, sind extra zu Claire nach Berlin gekommen, um auszuloten, wie der künftige Gesellschaftsvertrag auszusehen hätte.
Claire findet, dass das der zweite Schritt vor dem ersten ist, aber sie sagt nichts. War es nicht traumhaft? – Endlich im Team unterwegs, mit Gleichgesinnten, denen sie vertraute und mit denen sich ihre ganzen Ideen in eine weltverändernde, ja, weltumspannende Lösung überführen lassen würden. Eine, bei der auch der Einsatz stimmte, ein harmonisches System aus Benefit und Drawback – so hieß das wohl.
Der Wunderwürfel war zwar streng genommen kein Würfel, erst recht kein Zauberwürfel, aber irgendwie eben doch, sogar mehr als das:
Die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.
Claire wusste das. Ihre beiden Geschäftspartner in spe, die wussten es auch. Bloß die Welt – die würde das UNGEHEUERLICHE erst noch erfahren.
Laut Businessplan soll ich bis Februar insgesamt 7 Unternehmen gefunden haben, mit einem echten Bedarf an den Passenden an Board. Claires Blick löst sich von den roten Rosen zu ihren Füßen. Jemand hatte sie in einer Kupferschale arrangiert und auf Tannengrün gestellt. Die Blüten sehen so aus, wie Claire sich fühlt – schockgefroren.
Es finden sich keine. Claire schaut verzweifelt zu dem schwarzen Hasen auf. Ihr Lebensgefühl: Irgendwo zwischen dem tapferen Schneiderlein und der Prinzessin, die Stroh zu Gold spinnen soll. Was soll ich bloß tun? – Der schwarze Hase schweigt. Du musst fallen, sagt er endlich. Er holt seine Taschenuhr raus. Beeil dich… der Notar wartet schon.
Claire sieht noch, wie der Hase in einem kleinen dunklen Spalt unter der Marmorplatte verschwindet. Sie zögert zuerst, dann tut sie es ihm gleich.
Ihr Fall würde leicht sein, sanft, wie in einem Fahrstuhl, so einem alten, einer von denen, die ab und zu steckenblieben, in Wien vielleicht oder in Paris, einem Ascenseur, der sie mitnähme, Rainbows to the Basement, Erdung, Einfall des freien Radikals.
Wer Claire kennt, weiss, sie geht gern in die Pilze.
In weniger guten Pilz-Jahren war es eine fordernde Angelegenheit, die Richtigen zu finden. Deshalb fiel ihr nicht gleich auf, dass es – zumindest in diesem Jahr, ihrem ersten Geschäftsjahr in spe (zumindest, was ihre ménage à trois betraf) – keine zu geben schien: Unternehmen, die gute Leute an Board brauchen.
Womöglich war alles ganz anders, als sie in den Medien immer sagten. Vielleicht bestand gar kein Bedarf. – Hatten nicht die Netzwerk-Kollegen aus CD1 – in Gestalt Franz Xaver Root (und der musste es schließlich wissen), vor einem Jahr schon gesagt: Es gibt keinen Markt.
Schon damals hatte Claire es nicht glauben wollen. Und doch war es so: Entweder die Unternehmen waren zu groß – dann lancierten sie ihren Search über die einschlägigen Agenturen. Oder die Unternehmen waren klein, zu klein – dann suchten sie über family & friends, fern jeden Bewusstseins, dass dieser Weg nun eventuell gerade nicht zu unabhängigen Lösungen führte.
Schaute man genauer rein, schien kein echtes Interesse zu bestehen, an kompetenzbasierten Antworten auf drängende Fragen, an Kreativität und Andersdenken, mit dem Ziel, das eigene Unternehmen mit einem agilen Team, einem Beirat zum Beispiel, nach vorne zu bringen, kein Wunsch nach integren Leuten am Tisch, mit denen die Wirekartenspieler dieser Welt hätten einpacken können.
Stattdessen liebte man es verschwiegen und verstand das Wir als entre nous. Probleme wurden abends beim Sport besprochen, mit Kollegen, auf Augenhöhe und unter Ausschluss nerviger Berater, die einem eh bloß mal wieder ein (teures) TOOL verkaufen wollten.
Das erfuhr Claire von einem Familienunternehmer aus Südbaden, der unterdessen versicherte, dass man – abgesehen davon – mit dem größten Vergnügen jedes Theater mitmache.
So schien zu Claires Bedauern wohl auch dieses Unternehmen nicht das richtige zu sein, zumindest keines, um die nachhaltige Wirkung des Wunderwürfels auszuprobieren. Dabei war man hier durchaus in der Lage, über den viel zitierten Tellerrand hinauszuschauen. Nicht umsonst war das Unternehmen Weltmarktführer in seinem Bereich, der Unternehmer selbst aufgeschlossen und angenehm bodenständig.
Claires Kopf wird zur Schneekugel, ihre Gedanken wirbeln umher: Wie bloß die 7 Unternehmen finden? – Am liebsten 7 auf einen Streich. Sie reist zu einem weiteren Unternehmer. Diesmal: Mannheim. Medizintechnik. (Der Bruder einer engen Netzwerk-Kollegin.)
Einen weiteren Unternehmergeist stöbert Claire über die Sozialen Medien im Technopark Bruchsal auf. Ein Zufallsfund. Es stellt sich heraus: Der kennt François noch aus Agentur-Zeiten und war schon damals begeistert. – Doch auch diese Einsichten bringen nichts weltbewegend Neues hervor.
Den Mut, Vertrauen zu schenken, allein aufgrund der detaillierten Skizze einer Vision – diesen Mut hatte bislang eben nur einer bewiesen: Dr. G. Stierle, der sich auf diese Weise selbst das Denkmal eines echten Visionärs gesetzt hatte. Er war es auch gewesen, der als erstes aufrichtiges Interesse zeigte und nicht die Haltung vertrat, bloß, weil er das Kapital besaß, Audienz zu gewähren. Er bewegte sich. Das sprach für ihn.
Und Claire (b)rennt weiter. Ihr ist klar: Es galt, die Gesellschaft zu gründen, denn ohne diese kein Standing nach außen. Das ging nur mit einem weiteren Mitgesellschafter. Unerlässlich für das Gleichgewicht im Teamgefüge und auch – nicht zuletzt – wegen der mittelfristig erforderlichen Kapitalaufstockung.
Claires Wunschkandidat wohnt am Bodensee. François, Dr. Stierle und Claire setzen sich in den Mietwagen und fahren hin – und das Wunder geschieht: Der Kollege erkennt als erster (!) die Skalierbarkeit, das Potenzial, die ganze Dimension des Wunderwürfels.
Er kann sich eine Beteiligung – grundsätzlich – vorstellen. Bedingung: Zuerst der Markttest. Claire ahnt, es wird nicht leicht. Der Zeitpunkt für die potenzielle Reißleine ist im Businessplan fest verankert. Die Uhr läuft.
Noch hat sie ihr Lächeln, denn zumindest eines ist SICHTBAR...
... der Silberstreif am Horizont.
Unterdessen gilt es, auch das Core-Team zu stärken. Nach der Alten Mu im hohen Norden, wo die drei im Januar getagt hatten, treffen sich Claire, François und Dr. Stierle jetzt im Morgenland. Dort, tief im Westen Berlins, gibt es einen verschwiegenen Board Room. Hier ersinnt das Dreier-Gespann die Strategie um badenboards.
Dr. Kratzer ist krank und kann nicht kommen. Diese Begegnung wird einige Wochen später im Hauser Theater der Dramatischen Republik nachgeholt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Erdbeeren schon reif.
Selbst wenn auch das Morgenland kein Wunderland sein kann – na klar, wegen Corona und Krieg haben die Unternehmer gerade andere Sorgen als mehr Innovation, auch wenn die Zeitungen was anderes sagen –, doch auch nach diesem Strategie-Meeting hat Claire wieder einiges dazugelernt:
Wie Auszahlungen zum Unternehmensgegenstand werden, zum Beispiel. Dass Charakter nicht gleich Persönlichkeit ist und Impact nichts mit Outcome zu tun hat. Und dass kostenneutral ebenso wenig einen Unterschied macht, wie die Erkenntnis, dass manches einfach bloße Inszenierung ist.
Wie die deutsche Industrie ihr bedrohtes Geschäftsmodell retten will, das weiß Claire zwar noch immer nicht. Möchte sie ihr eigenes bedrohtes Geschäftsmodell retten, darf sie nicht mehr dauernd dribbeln – sie muss Tore schießen.
In keinem Business jemals zuvor (nicht mal am Theater) ist Claire so traurig und so glücklich zugleich.
Ja, es ist schade, dass Claire, so wie die Dinge stehen, sich nicht drum kümmern kann, was sonst noch auf der Welt passiert, wobei die Ironie darin besteht, dass der Wunderwürfel gerade JETZT, in diesen nicht unbedingt leichtgängigen Zeiten, DIE Lösung für sehr viele Probleme gleichzeitig wäre. Der Baum vor dem Fenster grüßt wissend. Victory scheint er sagen zu wollen und kündet vom Sieg.
Kameraschwenk auf das Operative: Schon bei einem Alte Mu-Meeting im Januar hatte Claire in ihren Reihen um eine Website gebeten.
Sie macht jetzt Druck, weil sie inzwischen eigesehen hat: Ohne potenziell Interessierten ETWAS ZEIGEN zu können, wird kein Praxis-Partner dieser Welt jemals aufspringen.
Was sollte ich sagen, was du ihnen nicht sagen könntest. Nimm doch ein Blatt Papier und mal es auf. Claire weiss, dass François recht hat. Auf der anderen Seite könnte sie das gleiche zu ihm sagen. Bloß, dass der Businessplan ihr, der Netzwerkerin, die Akquise-Rolle zudachte.
François will Claire mit einer Agentur aus Berlin zusammenbringen. Er denkt nach, verwirft den Gedanken wieder und baut selbst eine Site. Diesmal lautet die Adresse famyly. Das Logo: Ein schlaues Füchslein – teilmaskiert.
François etabliert ein Kommentarfeld. Die Website, die Claire gerne hätte extern aufsetzen lassen, mit direkter Connection zum Backend und somit zur bestehenden Software, führt nach ihrer Wahrnehmung letztlich dazu, bei der Zielgruppe eher Fragen aufzuwerfen, denn Antworten zu geben. Möglich, dass das daran lag, dass es einfach nicht die Richtigen sind, die sie drauf lenkt. Sie kannte das schon. Selbst die Mandatsinteressiertesten waren nicht in ihren internen Bereich gegangen, damals, lange Zeit vor Corona.
Claire nutzt die Kommentarfunktion, um die für Laien gewöhnungsbedürftige Anmutung der Website ironisch zu brechen. Deren Erbauer reagiert etwas ungehalten, angesichts Claires kreativer Auswüchse und schaltet das Kommentarfeld wieder off.
Wem immer Claire die Website zeigt – nahezu durchgängig schlägt ihr Unverständnis entgegen. Kaum einer der Angesprochenen fühlt sich aufgerufen, sich mit der Site auch bloß ansatzweise zu befassen.
Claire versteht die Welt nicht mehr. Alle reden vom Mandat und keiner geht hin – so fühlt es sich an.
Unterdessen hat Claire, Clarice – wie Alice im Wunderland – selbst schon das Gefühl, entweder zu groß oder zu klein für all das zu sein, was sie und ihre beiden Partner in spe sich vorgenommen hatten.
Türen öffnen – selbsttätig. Diesen vollmundigen Claim hatte Claire jahrelang vor sich hergetragen. Nun war sie selbst nicht in der Lage. Doch das stimmte nicht ganz. Das Verrückte daran war: Manche Türen sprangen durchaus auf, doch wenn sie nachschaute, schien meist nicht viel dahinter. – Konnte es daran liegen, dass sie nicht beherzt genug hindurchging?
Jedesmal nimmt Claire sich vor, es beim nächsten Mal anders, besser, zu machen. Sie und François reisen unabhängig voneinander nach Wien. Auch wenn Claire ihr Netzwerk dort weiter ausbauen kann – dank einer Kreativ-Unternehmerin aus Berlin lernt sie die Macher rund um das inspirierende DNA-Netzwerk kennen (Das Neue Arbeiten)...
... und doch bleiben einige der erhofften Door Opener – zumindest für diesmal – mindestens ebenso schöne (Kaffeehaus-)Begegnungen.
In ihrer Verworfenheit erinnert Claire an die französische Bildhauerin, Camille Claudel. Ziellos irrt sie durch die Straßen und Gassen, ohne zu finden, wonach sie sucht. In ihrer Not beginnt sie, mit den Tieren zu sprechen. Diesmal ist es nicht der schwarze Hase, sondern ein schwarzes Pferd, das ihr antwortet.
Lieber, Du, wo soll ich weitermachen? Claire nimmt ihren Mut zusammen und schaut dem Pferd trotz seiner Scheuklappen direkt in die Augen. Sag, wo finde ich Unternehmer, die sich mit uns an einen Tisch setzen? Solche, die wirklich was verändern wollen? Die Passende an Board brauchen, integre Leute? – Corporates mit echtem Bedarf. Alle reden doch davon...
Das schwarze Pferd schaut unbeweglich zurück und schweigt.
Wisse, Du, ich muss 7 Unternehmen finden, bis Februar – jetzt haben wir Juni! Panik liegt in ihrer Stimme. – Schau, sagt das schwarze Pferd langsam, für immer sollte geschwiegen sein. Aber bei dir werde ich eine Ausnahme machen. – Es ist so: Finde deine Lebensmenschen, enjoy the silence, und alles wird gut werden. Es geht um Schicksal, Geworfenheit, Verschworenheit, Vertrauen, Beweis – es geht um Berührung. Kunst kann das, Kunst kann berühren.
Claire scheint nicht überzeugt. Sie liebt Kunst, doch selbst hätte sie sofort gesagt, es gehe darum, unterwegs zu sein, unterwegs mit Menschen, die, wie sie, etwas in die Welt bringen wollten, etwas, wofür sie brennen. Ging es nicht darum eine Spur zu hinterlassen? Nicht im Sinne des Footprints, von dem immer alle redeten. Eher im Sinne einer Spur, die wieder verschwand und doch blieb. So, wie es nicht darauf ankam, Gelesenes wörtlich wiedergeben zu können. Oder so wie Spuren im Schnee, die einmal schmelzen würden. Auf die Spur kam es an, die im Innern.
Es konnte aber sein, dass sie beide das gleiche meinten und es bloß unterschiedlich ausdrückten. Am liebsten würde Claire das Pferd noch viel mehr fragen, doch es sind Touristen gekommen – der Kutscher drängt zur Weiterfahrt.
Danke, sagt das schwarze Pferd noch zu Claire und pustet sich den Pony aus den Augen. Grüße bitte Deine Geschäftspartner von mir (falls ich Euch trefft). Alles Gute für Deinen Sommer.
Claire will schon gehen, da wendet das schwarze Pferd sich nochmal zu ihr um und zwinkert mit den Augen: Und denk dran, Claire, ganz viel Licorice Pizza essen. Vergiß deine Mütze nicht bei der Messe im Münster. Und schubse deinen Wein nicht gleich wieder auf die frisch genähten Schuhe. Woher wusste er ihren Namen? Dieser brave Schwarze sprach wirklich in Rätseln, aber so war das eben mit Orakeln.
Wo finde ich meine Lebensmenschen? fragt sich Claire, als sie wieder allein ist. Berührung...Kunst... Ihr fallen die Pilze ein, die sich unterirdisch berührten, sich miteinander vernetzten. Vielleicht in Südbaden? In ihrer einstigen Studienstadt gab es gewachsene Verbindungen – da waren auch Unternehmer darunter. Waren das die Lebensmenschen, von denen das schwarze Pferd gesprochen hatte? Mit ihnen galt es, in Berührung zu kommen. Einen hatten sie ja schon getroffen.
Freiburg ließ sich zum Sunny Valley der Transformation machen, das ist Claire plötzlich sonnenklar. In Freiburg, wo die Bächlein sprangen und man nicht einsam, sondern dreisam war, dort galt es nach den Perlen zu tauchen – unendliche Möglichkeiten tun sich vor Claires geistigem Auge auf.
Über alledem eilt der Frühling heran. Die Kirschbäume im Kaiserstuhl biegen sich unter der Last ihrer roten Früchte. Es ist warm, die Sonne lacht. Claire, François und Dr. Stierle treffen sich in Freiburg, um Schnubbi Schnellke (Name von der Red. geändert) zu treffen.
Schnubbi ist der ziemlich coole Herausgeber des genauso coolen regionalen Businessmagazins, BadenBrand, das an ein belastbares Unternehmer-Netzwerk gekoppelt ist. Der Herausgeber ist exzellent vernetzt, und es macht extrem Spaß, mit ihm zu tun zu haben, denn er ist 1.) entspannt 2.) uneitel 3.) jemand, der die Dinge verstehen will.
Claires Augen beginnen zu leuchten, wenn sie von der badenboards-Strategie spricht, dank der sich die Relevanz des Wunderwürfels, die Sinnhaftigkeit eines Beirats über Schnubbis Netzwerk in den badischen Mittelstand spielen lassen würde. Sonnige Aussichten. Was Claire noch nicht weiß: abendsonnige.
Ihre beiden Business-Partner in spe sind auf alle Fälle angetan von der Idee. Endlich hatte Claire mal was mit Hand und Fuß lanciert.
In der Tat: Schnubbi besaß Hände. Füße allerdings auch. Zum Beispiel zum Wegrennen. Doch soweit war es noch nicht. Über den Grünhof und deren Soziale Innovationen-Department würde man das Wunderwürfel-Modell mit Leben füllen.
Inmitten der schönsten Weinberge fassen die Vier die Idee ins Auge, an mancher Schnittstelle zusammenzuwirken. Das Ziel: Unternehmen dabei helfen, die Welt ein bißchen besser zu machen.
Schönste Vorsätze – derweil rollt der Sommer heran und mit ihm die PAUSE.
Die Schulferien fallen in diesem Jahr dermaßen ungünstig, dass aus 6 Wochen ein gefühltes Aus von 8 Wochen wird. So ist es: Vor lauter Pause geht Claire bald die Puste aus.
Schon die Osterferien hatten die Unternehmerin auf eine harte Probe gestellt.
Weil nichts mehr geht in diesem Land, unternimmt Claire eine Reise nach Mallorca. Natürlich nicht, um sich eine Auszeit zu gönnen. Abgesehen davon, dass sie für das Aufsichtsrat aktuell noch einiges auf dem Tisch hat, wartet die Zweitauflage ihres Springer Büchleins schon länger darauf, finalisiert zu werden.
Dazu kommt, dass 1.000 Seiten ihres C-Romans in der Schublade schlummern. Die wollen raus, in die Welt. Und Claire tut etwas, das sie sonst noch nie getan hat. Sie bucht einen Workshop in eigener Sache – Book Retreat mit Peter Buchenau.
Die Kultur Finca von Will Kauffmann ist ein Traum. Geheimtipp für alle, die einen Ort zum Abschalten suchen, wo sich Arbeiten wie Urlaub anfühlt, ein Ort zum Nachdenken, zum Zurückfinden zu sich selbst. Vista Alegre, der Ort für den leichten Blick, ein Ort zum Schreiben. Keine Touristen (außer einem selbst) – dafür ein Pony und barfüßige Kinder, die mit den vogelfreien Hühnern Fangen spielen und mit erdverschmierten Gesichtern vom Baumhaus in den Pool springen.
Es hätte um den [C]-Roman gehen können, doch die drängenden Themen wollen auf den Tisch. Noch immer hat Claire kein Stroh zu Gold gesponnen. Das musste sich ändern. – Und zwar schnellke.
Mit einer ausgefeilten Content-Strategie fliegt die Unternehmerin zurück in die Stadt mit dem weißen Himmel. Schon spürt sie: Sie muss gleich wieder zurück, jetzt, sofort – nur noch einmal – in jenes Paradies, dorthin, wo sie so gut arbeiten konnte, so leicht und unbeschwert sich fühlen durfte. Diesmal soll die Tochter sie begleiten. Obiou musste einfach diese Kinder mit den nackten Füßen kennenlernen und Pixi, das Pony.
DANN PASSIERT ES. –
Claire ist mit Obiou auf dem Weg zum Flieger. Es ist heiss, die Kleider kleben. Die Ringbahn fährt ein, die Tochter rennt los, die Mutter, schnell-schnell, hinterher – schon blinkt das Signal, die Türen klappen zu. Mama, dein Rucksack, ruft die Tochter entsetzt. Die Mutter dreht sich um, begreift nicht gleich, dann sieht sie ihn auch, draußen auf der Bank am S-Bahnsteig: Den Rucksack von Claire. Die überlegt noch, gehetzt – doch ihre gute Erziehung obsiegt, so tut sie es nicht: War es nicht strafbar, wegen Lappalien die Notbremse zu ziehen? Und war so ein Rucksack, so ein läppisches Laptop, nicht genau das – eine Lappalie?
Schließlich konnte es auch sein, dass es noch gute Menschen auf der Welt gab, die den Rucksack in Sicherheit brachten. Ein frommer Gedanke, um nicht zu sagen, naiv. Als sie zurückkommt, ist der Rucksack weg und mit ihm der fast neue 13-Zoller MacBook Pro sowie – und das ist viel schlimmer – weitere persönliche Gegenstände, an denen Claires Herz inniglich hängt.
Tatsächlich, ein freundlicher Mensch meldet sich am Abend bei Claire. Ihre Handynummer stand auf dem Impfheft der Tochter. So informiert er sie nun über die Reste aus dem ausgeweideten Rucksack. Die Fundstücke lagen hinter einem Zaun, im Gebüsch, direkt hinter dem Bahndamm der S-Bahnstation.
Glück im Unglück hat Claire die beiden Pässe im Koffer – sie konnten also trotzdem fliegen.
Während Obiou mit den barfüßigen Kindern den bislang wohl schönsten Sommer ihres Lebens verbringt, schaut ihre Mutter vernichtet in den kreischend blauen Himmel. Ohne ihr Läppi im Zwangsurlaub – Claire am Rande: am Rande des Pools. Traum und Trauma liegen eben manchmal dicht beieinander.
Zurück in Berlin geht Claire ihren Verlusten nach und blickt in Abgründe unserer Gesellschaft, die manchmal bloß einen Steinwurf von unserer – gleich wie schwer sie wiegen mag, doch oft so viel leichteren – Lebensrealität entfernt sind.
Der Sommer neigt sich seinem Ende zu und mit ihm die Pause. Jetzt ist erstmal Einschulung angesagt. Kurz die Schultüte bemalen. Dann weiter.
Unterdessen ist der Businessplan längst Makulatur. Schnubbi Schnellke? – Long time, no hear. Freiburg, Sunny Valley – eine Seifenblase?
Claire fackelt nicht lange: badenboards heisst jetzt inboards. Sie weiss: Es musste ein Wunder geschehen. Der Zug war nicht länger aufzuhalten.
Und das Wunder geschieht. Es erscheint in Lichtgestalt von Nicky, der feschen Netzwerk-Kollegin aus der Schweiz. Claire kennt sie über das francophone Business-Netzwerk, Féminin Pluriel. Gemeinsam mit Clara und Marina baut Claire gerade ein FP-Chapter in Berlin auf. Daniela ist auch mit von der Partie. (s.u.)
Nicky verfügt über beste Zugänge in die Schweizer Board Community und bringt Claire mit Billa zusammen. Wie sich herausstellt, führt Billa an einer Schweizer Fachhochschule diverse Projekte durch, die sich mit den Out-of-the-Box-Board-Formaten von Claire ideal kombinieren lassen.
Über einen solchen Player würden sich Unternehmen viel besser adressieren lassen – da ist sich Claire sicher. Das würde den Wunderwürfel endlich pushen. Außerdem weiss sie, dass hier Leute zusammenarbeiten, die den Change nicht nur behaupten, sondern längst inkarniert haben. Claire konnte sich selbst davon überzeugen als sie beim HR Panel - New Work einen Workshop begleitete. Hier musste niemand mehr umständlich sensibilisiert werden.
Es kommt zum Zoom-Termin mit Billa. Dann machen die beiden Frauen Nägel mit Köpfchen:
Claire bittet Dr. Stierle und François zu einem Kennenlern-Termin nach Freiburg. Treffpunkt ist das Hotel Mercure Panorama, ganz oben, auf dem Schlossberg. Der Inhaber des Hotels, Éric Lassiaille, ist Südfranzose, weshalb er seine Meeting-Räume nach den Städten seines Heimatlandes benannt hat.
Im Antibes, über den Dächern von Sunny Valley, mit einem weiten Blick bis nach Frankreich, werden die diversen Optionen einer potenziellen Kooperation besprochen.
Noch in diesem Jahr soll ein Labor-Durchlauf des BoardFlight stattfinden als Vorbereitung für mögliche spannende Board-Formate aus gemeinsamer Produktion. Außerdem wird beschlossen, sich noch ein weiteres Mal in diesem Jahr zu treffen, dann in der Schweiz, um weitere Schritte zu definieren.
Alle gehen im besten Einvernehmen auseinander. Claire kann nicht ahnen, dass ausgerechnet aus diesem Termin ein Abschied würde. – In gewisser Weise.
Es vergehen 16 Tage. Dann passiert es: Der Videocall mit Dr. Stierle. Es ist der 31. August 2022.
Angesichts der Worte, die Dr. Stierle ihr aufgeräumt zuruft, fühlt Claire sich an den letzten Satz von Malina erinnert, jenem Roman von Ingeborg Bachmann.
Claire trifft es unvorbereitet. Dabei hätte sie es wissen können, wissen müssen: Kein Bedarf an guten Leuten an Board, zumindest keinerlei Signal, ergo kein Markttest, ergo kein vierter Mitstreiter, ergo Reißleine. Kurzum: Claire hat es vergeigt, neben dem Business Angel ist sie zum Todesengel geworden.
War vielleicht auch gut so, tröstet sich Claire – nur wenige konnten so konstruktiv streiten wie sie und François. Okay, manchmal hatte es Sandkasten-Niveau. Damit kam nicht jeder klar. Dr. Stierle hatte sich das lange genug angeschaut. Er hatte nicht gesagt, dass es das war. Offizieller Grund war ein neues Mandat und das geringere Zeitbudget. Die wahren Gründe waren den Menschen oft nicht einmal selbst ganz bewusst. Claire war sich sicher, dass es andere gab. Doch im Grunde war es gleich. Die Reißleine war längst überfällig, auch François hatte das schon antizipiert. (Dafür musste man aber auch kein Prophet sein.)
– Die Antwort von Claire:
Auf den Weggang von Dr. S. folgt, frei nach Alice im Wunderland: Claires Tränenmeer. Allerdings ein leises. Claires Herz, eine Pfütze.
Noch am selben Abend trifft sich Claire in Freiburg mit Rodolfo von den Fine Young Digitals. Schnubbi Schnellke ist trotz Redaktionsschluss eigens in den Kaiser gekommen. Claire beisst auf ihrem Schnitzel die Zähne zusammen. Ein lustiger Abend, trotz allem, dieser Abend nach der Kündigung.
Back to Hangar.
Doch jedem Ende wohnt ein Zauber/er inne. Claire hat keinen Slot für Trauerarbeit. Manchmal kommt ein Rotkehlchen vorbei.
François, Erfinder des Wunderwürfels ist nach wie vor verlässlich an Board. Mit Billa gilt es in Sachen Schweiz-Kooperation alle Hände voll vorzubereiten. Marta ist auch in touch. Nach wie vor hat Claire tonnenweise Redaktionelles auf dem Tisch.
Trotzdem, 9. September, Krisensitzung im Berliner Westen mit einem Vertrauten.
Es soll noch einmal telefoniert werden.
Dank Dr. Stierle bleibt noch Kapital, und er ist nach wie vor als Mensch präsent. Das ist für Claire das WICHTIGSTE. Die Unternehmerin beschließt, das BESTE aus ALLEM zu machen.
Der Plan: Mit dem verbleibenden Budget sollen Unternehmen gewonnen werden. Was es dafür braucht: Einen Terrier, einen wunderbaren Pitbull – eine Person, die die Sprache von Unternehmern spricht, nein, bellt, solchen, die sich als Change Maker verstehen und solchen, die das noch nicht tun. Gerne eine Frau, die, wenn nötig, beinhart sein konnte – nicht so eine wie Claire, diese verträumte Idealistin, diese verclairte Netzwerkerin, farouche, die einfach viel zu viel parallel machte.
In München wird Claire fündig. Die ganz wunderbare Familienunternehmerin Cassy N. wird zu einem Arbeitsmeeting nach Zürich gebeten. Billa kommt auch.
Cassy N. zeigt durchaus Interesse. Was Claire jetzt aber am dringendsten braucht, ist ein Mitgesellschafter, niemanden, der (oder die) Claire – und erst recht nicht François – gar wunderbar erklärt, wie Start-up geht. Oder von eigenen Spielregeln spricht. Deshalb kommt man nicht zusammen. Leider.
Und wiederum bleibt keine Zeit zum Weinen. Claire muss Chefsache: Beirat voranbringen, ein neues Buchprojekt mit Peter Buchenau, Teil der Content Strategie aus dem Sommer.
Und es gibt HallYmasch, das Mentoring-Programm für ambitionierte Board Member, ein Projekt, das sie gemeinsam mit Mickey, dem Wiener Super-Networker initiiert. Hallymasch, der Name kommt aus der Pilzwelt, benannt nach dem Pilz mit dem größten Myzel:
Parallel gilt es, den geplanten BoardFlight im November vorzubereiten und ein Familienunternehmen aus Südbaden als Case Presenter zu gewinnen. Als der bereits fest eingeplante Brauerei-Inhaber kurzfristig absagt, mit dem Claire noch extra kurz zuvor ein Interview geführt hatte, steht der Workshop auf der Kippe. Auch Corona klopft erneut an die Tür. Ungeachtet dessen kann Claire einige neue Kontakte knüpfen. Sie ist sich sicher: Das neue Jahr, das Jahr der Supernova. Der ursprüngliche Stern wird vernichtet und etwas völlig Neues entsteht.
Dann der Anruf: Éric Lassiaille, der Hotel-Inhaber höchstselbst: Isch mache mit, sagt er und hat sich damit auf einen der oberen Plätze in Claires persönlichem First Mover-Herz gespielt. – Alles Cannes, nichts muss, sagt Claire und freut sich still.
Dank der Spontaneität des Hoteliers kann das BoardFlight-Labor am 17. November 2022 in seinem Hause erfolgreich über die Bühne gehen. (Name des Kooperationspartners, weil informell, hier mittels Retouch gelöscht)
Die Board Crew (weil Labor, hier verpixelt). Éric und Claire, Dr. Stierle und François, des weiteren Mister Mint aus H., Rodolfo von den Fine Young Digitals sowie aus der Schweiz: Billa und deren Kollegin Christel sowie Marta Buschmüller. (Alle Namen von der Red. geändert).
Grand Merci, cher Éric. (Photo-Filter: Urban)
Und hier enden sie fast auch schon, die persönlichen BOARDSTORIES 2022 à la Clarice in Wonderland.
Musikalisch passt zu diesem Jahr wohl am besten Philip Glass – Einstein on the Beach: Knee Play 1, Train.
Weil Claire fast immer mit dem Kopf durch die Wand will, ist sie sich sicher: Es wird weitergehen, auch im neuen Jahr. Bloß anders. Mit noch mehr Mut eventuell und filterfrei, mal sehen... wobei....eher nicht. War es nicht gut, wenn die Menschen mit etwas umgehen mussten, was sie nicht sehen konnten? Dazu gehörten auch Gesichter, die plötzlich ganz anders wirkten, nachdem man sich bislang nur via Zoom gesprochen hatte.
Mit AufsichtsART würde es weitergehen, in Wien und mit BoardFlight in Freiburg und in der Schweiz mit Boardpilot. Und auch der Wunderwürfel würde zum Einsatz kommen.
Und wenn es doch mal nicht weiterginge, würde Claire in den Rückspiegel schauen und sich an die Worte des schwarzen Pferdes erinnern.
Es geht um Berührung.
... durch die Kunst hindurch, gemeinsam in die Auseinander-Setzung.
Zumindest mit den erhofften Corporates war man in diesem Jahr bloß punktuell zusammengekommen. Das würde sich ändern. Claire würde neue Wege ausloten, um sie zu finden, denn immerhin:
Jenseits dessen war es für Claire ein Jahr der Befreiung gewesen, so wie sie es vorhergesagt hatte. Die Befreiung vom Rucksack, dem Rucksack des Lebens. Ja, sie war unterwegs – sie hatten [es gut gemacht], durch die Kirchgasse zur Kunst.
Die alles entscheidende Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest [42] – die hatte Claire für sich zwar noch nicht herausgefunden. Doch es gab diesen einen winzigen Augenblick, da sie verstand, was François damit gemeint hatte, als er zu ihr und Dr. Stierle sagte:
Wir sind UNTERTAGE führend.
Und wenn sie ob der tieferen Bedeutung dieser Worte in irrwitziges Gelächter ausbrechen musste, dann wusste Claire gerade drum, dass es darauf ankam, nicht allzu vertopft zu sein.
Und wie ihr ein Wohlmeinender zuletzt schrieb: Der Weg mag noch weit sein – mit manchem zur Seite kann es gelingen.
Und auch das kleine Glück würde nicht zu kurz kommen, im neuen Jahr.
Und das Schräge? – Das würden wir lieb haben.
Claire dankt allen, die ihr in diesem schrillen, surrealen Jahr 2022, zur Seite gestanden haben – ob im Norden, in der Schweiz oder in NRW, in Frankfurt am Main, Wien, Berlin oder dem Bodensee.
Projekte mögen platzen, Träume fliegen...
...egal, was passiert:
42 lodernde Neujahrsgrüße
Eure
Clarissa-Diana
P.S.: Wer errät, wer oder was Claire im zurückliegenden Jahr ganz besonders an den (Teller-)rand gebracht hat, bekommt eine Dose Apfelmus aus Claires Board-Küche und möge bitte gerne am 22. Februar 2023 in Wien, dem Vorabend des Österreichischen Aufsichtsratstages, mit eigenen Gedanken on stage sein, rund um die Frage: Was ist [nur für Dich] AufsichtsART?
© Sämtliche Bildrechte liegen, wenn nicht anders gekennzeichnet, bei WOMEN'S BOARDWAY (Fotocredit: Simcka-Emilian de Grancy) sowie braintomarket. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind zufällig, manchmal beabsichtigt. Zeichnungen: CD de Grancy